zur Erinnerung
1994 gesunkene Ostseefähre Warum erneut vor Gericht über den "Estonia"-Untergang gestritten wird

Von Alexander Preker

22.08.2022, 20.59 Uhr

Zwei Filmemacher entdecken aufsehenerregende Hinweise zum Untergang der "Estonia". Doch wegen ihrer Recherchen am Meeresgrund müssen sie wieder vor Gericht. Was es damit auf sich hat. "Estonia" im Hafen von Tallinn: 1980 gebaut, 1994 gesunken
Foto: epa Scanpix Samuelson/ dpa

Der Untergang der Ostseefähre "Estonia" zählt zu den größten Schifffahrtskatastrophen der Nachkriegszeit. 852 Menschen starben an jenem 28. September 1994, nur 137 überlebten das Unglück vor der südwestlichen Küste Finnlands. Bis heute halten sich hartnäckig Mythen über angebliche Ursachen - von Terroranschlag über verrutschte Ladung bis hin zu einer missglückten Geheimdienstoperation.

Zuletzt befeuert wurden die Vermutungen durch einen Fund des Dokumentarfilmers Henrik Evertsson, der zusammen mit dem Wrackexperten und Unterwasserfilmer Linus Andersson im September 2019 einen Tauchroboter zur "Estonia" geschickt hatte. Was sie fanden, war bemerkenswert: unter anderem ein mehrere Meter großes Loch im Schiffsrumpf und ein weiteres an anderer Stelle.

Doch der Rechercheerfolg und die inzwischen nun auch von den Behörden selbst wieder aufgenommenen Untersuchungen zu dem Untergang haben für die beiden Filmemacher einen bitteren Beigeschmack. Ihnen wird in Göteborg nun erneut der Prozess gemacht. Darum geht es:

Freigesprochen - und noch mal vor Gericht

Eigentlich hätte die Sache längst erledigt sein müssen. Die beiden standen nämlich schon einmal wegen der Aufnahmen des Wracks vor Gericht. Der Vorwurf lautete damals wie heute: Störung der Totenruhe. Denn die Behörden hatten das Wrack unter das Grabfriedensrecht gestellt. Man durfte sich nicht nähern, die Unglücksstelle auf See soll geschützt sein. Viele der Toten konnten nicht geborgen werden.

Das Bezirksgericht von Göteborg entschied damals, dass die beiden sich dem Wrack näherten, sei zwar strafbar, sie könnten aber nicht verurteilt werden, weil sie während der Dreharbeiten an Bord eines Schiffs waren, das unter deutscher Flagge in internationalen Gewässern fuhr. Das Gericht sah keine Grundlage für eine Verurteilung nach schwedischem Gesetz, da Deutschland nicht an die zwischen Estland, Finnland und Schweden getroffene Grabfriedensvereinbarung gebunden ist. Das deutsche Schiff sahen die Juristen als deutsches Territorium.

Doch nach dem Freispruch legte die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel ein. Das Berufungsgericht in Göteborg hob das Urteil des Bezirksgerichts im Februar auf - und überwies den Fall zur erneuten Prüfung an die Vorinstanz. Die Richter waren der Ansicht, dass der Fall doch nach schwedischem Recht überprüft werden könne.

Unterwasserfotograf Linus Andersson zeigt sich verwundert über den neuen Prozess. Die Fakten seien alle bekannt, falls er und Evertsson nun doch verurteilt werden würden, "wäre es traurig", sagte er dem Sender SVT. "Es ist ärgerlich, wenn es wieder auftaucht und wieder von vorn beginnt." Wenn es so wäre, würden sie sich Gedanken machen, ob sie weiterkämpfen würden. Ein Urteil soll am 5. September verkündet werden.

Der stille Sieg der Filmemacher

Selbst wenn sie juristisch jetzt noch verantwortlich gemacht werden sollten, so trugen die Recherchen der beiden einen wesentlichen Teil dazu bei, dass die schwedischen Behörden nun den Untergang selbst noch mal genauer untersuchen wollen - gemeinsam mit Finnland und Estland. Die schwedische Havariekommission hatte die Regierung aufgefordert, den Grabfrieden hierfür zu lockern. Entsprechende gesetzliche Änderungen traten vor rund einem Jahr in Kraft.

Inzwischen sind Voruntersuchungen angelaufen, unter anderem mit dem Forschungsschiff "Electra af Askö". Die Vorstudie im Sommer 2021 bestätigte anhand von Untersuchungen mit Sonargeräten und einer Kamera die Ergebnisse der beiden Filmemacher.

Die Frage, wie die insgesamt zwei Löcher in den Rumpf kamen, ist damit allerdings weiter offen. Zudem zeigte die behördliche Untersuchung eine Öffnung am Schiffsbug. Danach befinde sich die Bugrampe nicht mehr an ihrem üblichen Platz, sondern liege - von ihren Halterungen gelöst - auf der Seite. Es gibt also eine Öffnung zum Autodeck.

Angehörige und ihr Kampf um Gewissheit

Die Berichte über den Zustand des Wracks haben auch viele Angehörige der Opfer bewegt. Gelingt es ihnen, doch noch den Grund für den Tod ihrer Liebsten herauszufinden - oder womöglich sogar noch sterbliche Überreste nach Hause zu bringen? Ursprünglich hatte der damalige Ministerpräsident Carl Bildt sogar versprochen, das Schiff zu heben.

Nach der Änderung des Gesetzes und dem Beginn der staatlichen Untersuchung kündigten die Hinterbliebenen der Opfer im Herbst 2021 an, das Wrack selbst mit einem Tauchgang inspizieren zu wollen. Mitorganisator Raivo Hellerma von der Hinterbliebenenorganisation Memento Mare sagte damals aber auch: "Wir suchen nicht nach Schuldigen oder versuchen, eine bestehende Theorie zu beweisen."

Das abgerissene Bugvisier: Laut offiziellem Untersuchungsbericht aus dem Jahr 1997 die Ursache für den Untergang
Foto: Jaakko Aiikainen / dpa

Das schwedische Fernsehen sprach mit einer Überlebenden, die sich auch über den Prozess Gedanken macht. Sie könne nicht verstehen, wie das Filmen im Freien, das dazu noch solch bedeutende Ergebnisse hervorgebracht habe, ein Verbrechen sein könne, sagte sie SVT. Und: "Ich denke, dass ihre Arbeit richtig war."

Die Suche nach Hinweisen

Unterdessen gibt es immer weitere Hinweise, die die offizielle Ursache für den Untergang infrage stellen. Nachdem im Jahr 2000 Spekulationen die Runde machten, dass eine Explosion den Untergang der "Estonia" verursacht haben könnte, hieß es 2008, die Fähre sei offenbar bei schwerer See viel zu schnell gefahren. Diesen Sommer erhielten die Spekulationen nun neue Nahrung. Zum einen, weil der ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsident Ingvar Carlsson die Regierung im Radio dazu aufforderte, bekannt zu geben, ob sich zum Zeitpunkt des Untergangs Militärtransporte auf der "Estonia" befanden. In wenigen Wochen wird in Stockholm ein neuer Reichstag gewählt.

Zum anderen kam im Juni dieses Jahres heraus: Eines der Löcher ist deutlich größer als gedacht. Im Rumpf klaffe eine mindestens 40 Meter lange und sechs Meter breite Öffnung statt der bisher angenommenen 22 Meter, teilte die estnische Havariekommission unter Berufung auf Ergebnisse einer Photogrammetrie-Untersuchung mit. Ein kleiner Unterwasserroboter konnte sogar bis auf das Autodeck vordringen. Ein Ermittler der schwedischen Unfalluntersuchungsstelle sagte damals aber auch, dass das nicht unbedingt eine Überraschung sei. Die Schäden könnten sich im Laufe der Jahre verschlimmert haben.

Bis es endgültige Ergebnisse von der Untersuchung vom Juni gibt, kann es allerdings noch ein paar Monate dauern - und auch dann ist längst nicht gesichert, ob wirklich eine neue Ursache für den Untergang festgestellt werden kann. Laut offiziellem Untersuchungsbericht aus dem Jahr 1997 gilt das Bugvisier als Grund. Die Dutzende Tonnen schwere Klappe wurde bei dem Unglück herausgebrochen.

Das Wrack des damals innerhalb von nur einer halben Stunde untergegangenen Schiffs macht derweil auch über Wasser von sich reden. Ebenfalls diesen Sommer gab die finnische Schifffahrtsbehörde laut der schwedischsprachigen Zeitung "Hufvudstadsbladet" bekannt, dass an der Stelle des Untergangs immer wieder Öl an die Oberfläche kommt.

"Die Estonia hat auch in der Vergangenheit eine kleine Menge Öl verloren, aber jetzt hat sich das Leck über einen längeren Zeitraum fortgesetzt", hieß es demnach. Die Bekämpfung sei unter den derzeitigen Umständen aber "unmöglich". Woher das Öl genau stammt, ist unklar, noch immer befinden sich aber die Fahrzeuge an Bord.

Aktenzeichen: B 2415-22


Quelle: Mit Material der dpa | Spiegel


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 17.07.2023 - 09:04